Rätsel um die Finther Hausheiligen

Es gibt Dinge in Mainz-Finthen, die ganz besonders und außergewöhnlich sind – die aber trotzdem fast nur Besuchern sofort ins Auge springen, während sie für die allermeisten Einheimischen so alltäglich und selbstverständlich sind, dass sie ihnen gar nicht auffallen. So verhält es sich etwa mit den vielen Marien-, Josefs- und Heilandsfiguren an den Fassaden alter Häuser im Ortskern des Mainzer Stadtteils. Haben die so genannten „Hausheiligen“ Finthen einst vor der Zerstörung bewahrt?

Landwirt Herbert Weil, Jahrgang 1951, betreibt auf seiner Hofreite in der Finther Poststraße einen kleinen Hofladen, in dem er einen Teil seiner Ernte anbietet. Sein ganzes Leben hat er in Finthen verbracht – wie auch schon viele Generationen seiner Familie vor ihm. Seine Vorfahren haben das Haus errichtet, in dem er aufgewachsen ist und in dem er noch immer mit seiner Ehefrau lebt. Auf die Frage allerdings, was es mit der Heiligenfigur in der Fassade auf sich hat, zuckt der „Urfinther“ nur mit den Schultern: „Ich weiß leider nicht, wann und warum die erste Hausheilige, Bernadette von Lourdes, angebracht wurde“, sagt er. „Die Hausheiligen waren schon immer da – schon, als ich noch ein kleines Kind war. Jedes Haus im Finther Ortskern hatte damals einen.“

Tatsächlich finden sich noch heute weit mehr als 50 Heiligenfiguren an Häusern im alten Ortskern, die meisten von ihnen in etwa drei, vier Metern Höhe in einer rundbogigen Nische im Zentrum der zur Straßenseite gelegenen Fassade. Unter einigen dieser Nischen sind Jahreszahlen angebracht, die davon zeugen, wann die Häuser erbaut wurden: das älteste im Jahr 1898, die meisten Mitte der 1920er- bis Mitte der 1930er-Jahre und sehr wenige Nachzügler Anfang der 1950er-Jahre.

Hinter Putz und Dämmung

In den jüngeren Häusern fehlen Hausheilige bis auf wenige Ausnahmen, und selbst bei alten Gebäuden stehen inzwischen einige der Heiligen-Nischen leer. Das muss nicht zwingend ein Anzeichen dafür sein, dass die aktuellen Bewohner nichts mehr mit dem Katholizismus verbindet, sodass sie diese entfernt haben. Einige Hausheilige sind im Laufe der Jahrzehnte auch deshalb verschwunden, weil Diebe sie gestohlen haben oder sie bei Fassadenarbeiten zerstört wurden. In den 1950er-Jahren kamen zudem die zuvor typischen Sichtmauerwerke außer Mode, stattdessen begannen die Finther, ihre Außenfassaden zu verputzen und noch etwas später zusätzlich auch zu dämmen – für Heiligennischen war dabei oftmals kein Platz mehr vorgesehen. Dies betraf nicht nur Neubauten, sondern oftmals auch den sanierten Bestand.

Als Herbert Weil sein Haus vor Jahren sanieren und dabei die Außenfassade dämmen ließ, verschwand auch bei ihm die typische Heiligennische im Zentrum der straßenzugewandten Außenwand. Auf eine Hausheilige verzichten wollte er jedoch auch nach den Umbauten nicht, „weil sie im alten Finthen einfach dazugehören“, und so blickt statt Bernadette nun die heilige Gottesmutter aus einer Aussparung in der Hausecke über dem Hoftor auf eintretende Bewohner, Besucher und Hofladen-Kunden hinab. Nie hat sich Herbert Weil Gedanken darüber gemacht, warum es in seinem Heimatort so viele kunstvoll verarbeitete Heiligenfiguren gibt – es ist für ihn einfach selbstverständlich und Alltag gewesen, den er nie hinterfragt hat. „Heute bin ich traurig darüber, dass ich meine Eltern und Großeltern zu deren Lebzeiten nie gebeten habe, mir die Hintergründe zu erzählen“, sagt er. Denn es stimme schon: „Ich kenne keinen Ort und keine Stadt, in denen es gemessen an der Einwohnerzahl so viele Hausheilige gibt wie hier bei uns in Finthen.“

Katholisches Finthen

Eine wichtige, aber nicht die einzige Voraussetzung für die Finther Hausheiligen-Vielfalt besteht darin, dass der Ort sehr stark katholisch geprägt ist, auch wenn die Bedeutung des Katholizismus bzw. der Religionen und Konfessionen insgesamt bis heute stark zurückgegangen ist. „Etwa um das Jahr 1900 herum haben Finther damit begonnen, ihre Häuser dem Schutz verschiedener Hausheiliger zu unterstellen“, sagt Agnes Wintrich vom Finther Heimat- und Geschichtsverein. Zu diesem Zeitpunkt lag der Anteil der katholischen Bevölkerung im vormals erzkatholischen Mainz bei nur noch knapp 60 Prozent, während es dort nur 100 Jahre zuvor noch fast 90 Prozent waren (hinzu kamen 7,5 Prozent Juden, und der Anteil der lediglich 3,5 Prozent Protestanten im Jahr 1800 hatte sich bis 1900 auf gut 35 Prozent verzehnfacht).

In Finthen jedoch, das um die Jahrhundertwende noch eigenständig war und erst 1969 eingemeindet, also ein Mainzer Stadtteil wurde, hat sich der fast exklusive Katholizismus deutlich länger gehalten: Unter den rund 2.000 Finthern im Jahr 1900 gab es kaum einen, der eine andere Religion ausübte oder einer anderen Konfession angehörte. „Die katholische Prägung Finthens hat bereits um das Jahr 1000 begonnen, nachdem die Franken das Gebiet dem Mainzer Erzbischof überlassen haben, der es wiederum 1092 seinem Domherren übereignete“, so Agnes Wintrich. Finthen war anschließend Jahrhunderte lang im Besitz der Kirche, und die wenigen Bauern mit eigenem Hof waren allesamt Pächter des Kirchen- und Klostergutes. Die Pächterfamilien des Domherren konnten ihren Glauben damals selbstverständlich nicht frei wählen, genauso wenig wie ihre Mägde und Knechte. Und so überstieg und überdauerte der strenge Katholizismus im stark landwirtschaftlich geprägten Finthen sogar den im urbanen Mainz.

Schutz – aber wovor?

Wie wir schon gehört haben, begannen die Bewohner um das Jahr 1900 damit, die Fassaden ihrer Neubauten zur Straßenseite mit Marien-, Heilands- Josefs-, Sankt-Martins- und anderen Heiligenfiguren zu versehen. Ein auf der Hand liegender Grund dafür ist, dass die Erbauer sich, ihre Familien sowie alle künftigen Generationen und Bewohner der Häuser unter den Schutz ihrer Lieblingsheiligen stellen wollten. Aber war Finthen besonders gefährdet, dass sich so ungewöhnlich viele Bauherren berufen fühlten, göttlichen Beistand für ihre Wohngebäude zu beanspruchen?

Der langjährige Finther Ortsvorsteher, Herbert Schäfer, dessen Großeltern seinen „Obsthof Schäfer“ in der heutigen Flugplatzstraße (damals Mainzer Straße) inklusive stattlichem Hausheiligen „Herz Jesu“ im Jahr 1924 erbaut haben, hat eine Vermutung: „Die damals sehr gläubigen Menschen haben Gott mit den Hausheiligen ihren Dank dafür ausgedrückt, dass Finthen im Ersten Weltkrieg weitgehend glimpflich davongekommen ist.“ Natürlich waren unter den vielen getöteten deutschen Soldaten auch einige aus Finthen, allerdings haben dort selbst keinerlei Kriegshandlungen stattgefunden. „Ein weiterer Grund war, dass die Finther göttlichen Schutz auch für die Zukunft wollten, zumal es hier in direkter Nachbarschaft einen Militärflugplatz gab, der durchaus als Angriffsziel hätte dienen können“, so Herbert Schäfer.

Keine Bomben auf Finthen

Sollte dies tatsächlich die Intension der damaligen Bewohner Finthens gewesen sein, so hätte sie ihren Zweck glänzend erfüllt: Während Mainz sowie benachbarte Gemeinden (inklusive etwa Gonsenheim) im Zweiten Weltkrieg seit 1942 immer wieder Ziel schwerer Luftangriffe waren, bei denen als schlimmer Höhepunkt die Mainzer Innenstadt am 27. Februar 1945 von 1.500 Tonnen Fliegerbomben fast komplett zerstört wurde, blieb Finthen nahezu vollständig verschont. Dabei wäre Finthen in der Tat ein potenzielles Ziel der britischen und US-Amerikanischen Luftwaffe gewesen, denn hier waren am Flugplatz Finthen, also in fast unmittelbarer Nachbarschaft, Nachtjagdflugzeuge der Wehrmacht stationiert.

Allerdings taugt dieses große Glück bzw. – je nach Sichtweise – kleine Wunder nicht dafür, die große Präsenz der Finther Hausheiligen zu erklären: Denn als die allermeisten von ihnen errichtet wurden, gab es den Flugplatz vor den Toren Finthens noch gar nicht und war auch noch nicht geplant – dieser wurde erst ab 1939 vom Reichsarbeitsdienst und später von Häftlingen eines Außenlagers des SS-Sonderlagers Hinzert aufgebaut, nachdem diese den Finther Wald zuvor komplett roden mussten (womit wir an dieser Stelle kurz ein dunkles Thema anschneiden).

Heimatverein plant Rundgänge zu Hausheiligen

Die Finther Hausheiligen bleiben also ein Rätsel. Vor gut 20 Jahren hat sich eine vierte Klasse der Finther Peter-Härtling-Grundschule auf Initiative der inzwischen pensionierten Lehrerin Christa Broich erstmals in einer Projektarbeit mit den vielen Heiligenfiguren im Ortskern befasst. Der Finther Heimat- und Geschichtsverein will diese Schülerarbeiten nun zeitnah aufgreifen. Geplant ist etwa, im Verlauf des kommenden Jahres – je nach Entwicklung der Corona-Lage – virtuelle oder „echte“ Rundgänge zu ausgewählten Hausheiligen anzubieten. Wir sind gespannt und werden Euch auf dem Laufenden halten.

Abschließend noch ein Aufruf an die „Urfinther“ Familien: Wer die Gelegenheit hatte, von seinen Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern zu erfahren, warum sie damals Heiligenfiguren an der Hausfassade angebracht haben und ob es besondere Ereignisse gab, die diesen zugeschrieben wurden, darf dem Heimat- und Geschichtsverein und uns diese Informationen gerne mitteilen. Auch über abfotografierte alte Fotos der Hausheiligen würden wir uns sehr freuen.


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