Happy-End wie im Märchenbuch: Adieu „Platte“

Obdachlose verlassen Ferienhaus in Mainz / Bewohner Frank wird auch kĂĽnftig nicht mehr auf der StraĂźe leben mĂĽssen. Pressemitteilung vom 30. Mai 2020.

FĂĽnf Jahre lang lebte Frank auf der StraĂźe, die vergangenen zweieinhalb Monate hat er auf der Hofreite von Julie und Ingo Fischer in Ferienhäusern gewohnt. Doch nun ist er stolzer Mieter einer Wohnung – die Zeit der Obdachlosigkeit ist vorbei. Foto: Ferienhaus in Mainz / Ingo Fischer

Happy-End wie im Märchenbuch: Adieu Platte

Dass zwei obdachlose Menschen kostenlos in unserem Ferienhaus in Mainz-Finthen wohnen dürfen, damit diese sich vor einer für sie akut lebensbedrohlichen Ansteckung durch Covid19 schützen konnten, hat Mitte März weit über die Stadtgrenzen hinaus Aufsehen erregt. Nachdem der Shutdown für touristische Ferienhausaufenthalte seit Mitte Mai beendet ist, geht auch dieser Aufenthalt dem Ende entgegen. Aus diesem Anlass möchten wir Euch darüber informieren, was wir in den zweieinhalb gemeinsamen Monaten, seit Frank und Károly (Namen geändert) bei uns eingezogen sind, zusammen erlebt haben – und wie es für unsere beiden Gäste nun weitergeht. Gleich vorab: Es gibt fantastische Neuigkeiten!

Zunächst ein Rückblick, wie alles begann: Mitte März steuert die Corona-Krise auf ihren Höhepunkt zu: Die Menschen in ganz Europa igeln sich zu Hause ein, um die exponentielle Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen und sich selber zu schützen – „Stay at Home!“ lautet das Gebot der Stunde. Gleichzeitig soll ein Mainzer Containerdorf dichtgemacht werden, das Obdachlosen als Winterquartier gedient hat, sodass diese wieder auf der Straße landen würden. In dieser verzweifelten Situation sucht eine unserer Freundinnen, die namentlich nicht genannt werden will, via Facebook nach einem Gartengrundstück „möglichst mit Hütte“ für zwei Bewohner dieses Containerdorfs, die aufgrund diverser Vorerkrankungen im Falle einer Ansteckung mit Covid19 in akute Lebensgefahr geraten würden. Julie und ich bieten kurzerhand unsere Ferienhäuser in Mainz-Finthen zur kostenlosen Nutzung an, zumal diese aufgrund der Corona-Maßnahmen ohnehin nicht vermietet werden können. Und Leerstand ist die schlechteste Option in einer Situation, in der möblierter Wohnraum für die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft dringend benötigt wird.

Wenige Tage später kommen am 21. März Frank und Károly auf unsere Hofreite und ziehen ins „Hofhaus“ ein – unsere Zusage ist zunächst bis Ende April befristet. Als im Verlauf des Aprils absehbar wird, dass die Pandemie auch danach nicht ausreichend eingedämmt sein wird, verlängern wir unsere Aufenthaltsgarantie bis Mitte Mai. Seit 18. Mai sind touristische Aufenthalte nun wieder möglich; fünf Tage nach Ende des Lockdowns wollen die ersten Gäste ins Hofhaus anreisen. Da jedoch das Brunnenhaus noch nicht gebucht ist, können wir Frank und Károly anbieten, innerhalb unserer Hofreite in ein anderes Ferienhaus umzuziehen.

Angst vor Behördenschwellen

Am Morgen des geplanten Umzugstags am 22. Mai vom Hofhaus ins Brunnenhaus ist Károly mitsamt seinen Sachen plötzlich verschwunden. Über ehrenamtliche Helfer lässt er uns am Abend seinen herzlichen Dank und liebe Grüße übermitteln: Er habe sich kurzfristig dazu entschieden, doch nicht mehr innerhalb der Hofreite umzuziehen zu wollen, da dies für ihn zu viel Aufwand bedeutet hätte. Vor dem Hintergrund, dass er im Falle einer kurzfristigen Buchung gegebenenfalls ein weiteres Mal um- oder ausziehen müsse, sei er lieber wieder sofort „auf Platte“. Für uns ist das ok, auch wenn wir Károly gerne persönlich verabschiedet hätten. Er ist nun einmal ein sehr sympathisches Schlitzohr, und wir sind zuversichtlich, dass er sich trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung – er ist herzkrank – auch vor dem Hintergrund des gesunkenen Infektionsrisikos weiterhin durchbeißen wird.

Bei unserem zweiten Gast, Frank, sieht es dagegen anders aus. Es wäre zynisch zu behaupten, dass irgendjemand für das Leben auf der Straße „geschaffen“ sei – aber wenn es jemand nicht ist, dann ist es Frank: Er ist ein zurückhaltender, sehr feinfühliger und sensibler Mensch, der niemals die Ellenbogen einsetzen würde, um seine Interessen durchzusetzen – selbst dann nicht, wenn diese berechtigt sind. Für ein Leben auf der Straße, auf der es bisweilen ruppig zugehen kann, sind das nicht unbedingt die besten Voraussetzungen. Zudem sind Franks Augen in den vergangenen Jahren so schlecht geworden, dass er selbst bei Tageslicht kaum mehr etwas erkennen kann – geschweige denn bei Dunkelheit.

Während seiner langjährigen Obdachlosigkeit hat Frank stets gedacht, dass seine Rückkehr in sein geerbtes Elternhaus unmittelbar bevorstünde. Staatliche Hilfen, auf die er als deutscher Staatsbürger Anspruch hätte, wollte er deshalb nicht beantragen – und irgendwann konnte er es auch nicht mehr, denn schon der Gang aufs Amt, in dem Antragsteller ihre Situation offenlegen und anhand diverser Dokumente belegen müssen, erfordert eine gewisse mentale Stabilität. Hier war die Schwellenangst schon von Beginn an groß, und sie ist in all den Jahren der Obdachlosigkeit stetig gewachsen.

„Ich will nicht mehr zurück auf die Straße“

Nachdem Frank Mitte März in unser Mainzer Ferienhaus gezogen ist, ist er regelrecht aufgeblüht, wie uns unsere Freundin bestätigt hat, die ihn schon seit vielen Jahren kennt. Mir hat Frank vor einigen Tagen beim internen Umzug vom Hof- ins Brunnenhaus gesagt – es war das erste lange Gespräch, das wir überhaupt geführt haben -, wie wohl er sich auf unserer Hofreite fühlt. Der Holzdielenboden sowie die Kombination aus einer modernen Innen-Architektur und Einrichtung in einem vor kurzem kernsanierten, rund 130 Jahre alten, ehemaligen Bauernhaus gefallen ihm besonders gut. Dass wir ihm dieses „Juwel“ für eine so lange Zeit überlassen haben, nimmt Frank als Zeichen der Wertschätzung ihm gegenüber wahr: Er ist es wert, dass wir ihm vertrauen. Und das habe ihm Auftrieb gegeben.

Unser großer Wunsch war und ist es, Frank und Károly nicht nur in dieser akuten Corona-Notlage zu helfen, sondern ihnen nachhaltig die Rückkehr in ein bürgerliches Leben zu ebnen. Wir hofften, dass sich unsere Gäste wieder an ein eigenes Zuhause, in dem sie selbst Hausrecht haben, gewöhnen und dass sie diesen Zustand auch nach dem Ferienhausaufenthalt nicht mehr missen möchten. Die Schwierigkeit bei Károly besteht jedoch darin, dass er als nichtdeutscher EU-Bürger keinen Anspruch auf Sozialleistungen in Deutschland hat. Frank hat diese Ansprüche zwar, jedoch hat er zunächst alle Überredungsversuche vehement abgewehrt, mit ihm zusammen zu den Behörden zu gehen, um diese auch geltend zu machen. Erst als das Ende des Aufenthalts immer greifbarer wird, ändert sich dies nach und nach – denn Frank findet tatsächlich wieder Gefallen am geregelten Wohnen. Irgendwann trifft er den Entschluss: „Ich will auf keinen Fall mehr zurück auf die Straße!“

Die Uhr tickt

Zu unserer großen Freunde setzt dies nun eine rasante Entwicklung in Gang: Am 12. Mai bekommt Frank eine Postadresse im Heinrich-Egli-Haus der Mission Leben. Ein Meilenstein! Denn eine amtliche Meldeadresse ist die Voraussetzung dafür, überhaupt erst Sozialleistungen betragen zu können (da kann man sich vorstellen, wie schnell man in unserem Land in einer Notlage durch die Maschen fallen kann!). Nur einen Tag später stellt Frank den Antrag auf Arbeitslosengeld II beim Jobcenter – ein weiterer Meilenstein. Unsere Freundin setzt sich nun massiv bei der Stadt Mainz dafür ein, dass Frank direkt im Anschluss an seinen Langzeitaufenthalt in unserem Ferienhaus eine dauerhafte Wohnung zugeteilt bekommt. Doch die Uhr tickt – vom 18. Mai an könnte der Aufenthalt im Falle einer bzw. mehrerer Spontanbuchungen theoretisch jederzeit kurzfristig beendet sein. Wird die knappe verbleibende Zeit ausreichen?

Zwar ist das Hofhaus bereits seit Februar vom 24. Mai an gebucht, doch wir haben Frank und Károly angeboten, innerhalb der Hofreite ins noch freie Brunnenhaus umzuziehen. Diese Option hat – wie bereits oben geschildert – nur Frank gezogen. Ihm haben wir nun bis spätestens 5. Juni das Brunnenhaus zugesichert. Da im Anschluss jedoch alle drei Ferienhäuser ausgebucht sein werden, wird Franks Aufenthalt spätestens am Freitag enden müssen.

FrĂĽchte des Engagements

Nachdem unsere Freundin weiterhin gekämpft hat wie eine Löwin kommt am 29. Mai die erlösende Nachricht: Auch dank des Mainzer Sozialdezernats, das aufgrund der Notlage einige bürokratische Hindernisse gekonnt umschifft hat, darf Frank bereits am 3. Juni dauerhaft eine Ein-Zimmer-Wohnung in einer Mainzer Einrichtung beziehen, die sich auf ihrer Webseite als „Ort zum selbstständigen Wohnen und Leben im Alter und bei Beeinträchtigungen“ beschreibt: „Wir wollen dazu beitragen, dass Menschen unabhängig von Hautfarbe, Religion oder sexueller Orientierung die Unterstützung bekommen, die sie für ein würdevolles Leben brauchen. Ebenso finden Menschen mit geringem Einkommen bei uns ein bezahlbares Zuhause.“ Ein Traum – wir sind alle selig!

Ehrenamtliche Helfer nutzen nun ihre Kontakte, um in regionalen Facebookgruppen wie „Free Your Stuff“ Möbel, Hausrat und weitere Sachspenden für Franks Ersteinrichtung zu organisieren. Sollte am Ende noch etwas fehlen, werden wir hier auch noch einmal einen Aufruf starten und gezielt nach einzelnen benötigten Dingen fragen – also braucht Ihr jetzt erst einmal nichts anzubieten.

Für Frank und uns ist es wie im Märchen: Nach zuvor fünf Jahren Obdachlosigkeit hat der Übergang von unseren Ferienhäusern in eine dauerhafte Wohnung nahtlos funktioniert. Noch vor zweieinhalb Monaten erschien uns diese Hoffnung reichlich naiv – und nun dieses Resultat. Wir sind überglücklich! Dieses Beispiel zeigt, wie viel möglich ist in unserer Gesellschaft, wenn wir zusammenhalten, uns engagieren, aufeinander achten und uns gegenseitig helfen. Hau rein, lieber Frank – jetzt geht Dein neues Leben los!


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